Freddy Litten

(Frederick S. Litten)

Oskar Perron - Ein Beispiel für Zivilcourage im Dritten Reich*

[Ursprünglich erschienen in Mitteilungen der Deutschen Mathematiker-Vereinigung, Heft 3, 1994, S. 11-12; die hier wiedergegebene erweiterte Fassung erschien in Frankenthal einst und jetzt, Nr. 1/2, 1995, S. 26-28. Bei Übernahme von Informationen bzw. Interpretationen aus diesem Beitrag bitte vorzugsweise die gedruckte Version zitieren, oder diese unter Angabe von Autor, Titel und vollständigem URL.]

Einer jener nicht allzu häufigen Wissenschaftler, die ihre anti-nationalsozialistische Haltung bereits vor 1945 erkennen ließen, war Oskar Perron. Von 1922 bis zu seiner Emeritierung 1950 war er Ordinarius für Mathematik an der Ludwig-Maximilians-Universität München.

Geboren wurde Oskar Perron am 7. Mai 1880 in Frankenthal als Sohn des Bankiers Heinrich Perron und seiner Frau Auguste geb. Leinenweber. Nach der Reifeprüfung am humanistischen Gymnasium in Worms studierte er Mathematik und Physik an der Universität München und Berlin und promovierte 1902 in München bei Ferdinand Lindemann mit einer Arbeit "Über die Drehung eines starren Körpers um seinen Schwerpunkt bei Wirkung äußerer Kräfte". 1906 in München habilitiert, war Oskar Perron zunächst von 1910 bis 1914 als Professor für Mathematik an der Universität Tübingen und von 1914 bis 1922 als Professor an der Universität Heidelberg, bevor er 1922 als Nachfolger Alfred Pringsheims an "seine" Universität nach München wechselte.1

Durch seine Arbeiten und Lehrbücher, aber auch aufgrund seiner Persönlichkeit zählte Perron zu den bedeutenden und angesehenen Mathematikern in Deutschland.2

In dieser Position hatte Perron für die Vertretung seiner Überzeugungen gegenüber den Nationalsozialisten einigen Spielraum. Im Gegensatz zu vielen anderen Professoren kam er jedoch den Grenzen dieses Spielraums zeitweise recht nahe. Bereits 1934 war er in Schwierigkeiten geraten im Zusammenhang mit seinem Vorsitz der Deutschen Mathematiker-Vereinigung und deren Sitzung in Bad Pyrmont, bei der Ludwig Bieberbach (1886-1982), Hauptvertreter der "Deutschen Mathematik", eine gewisse Niederlage einstecken mußte. Daraufhin hatte der Mathematiker und Ministerialdirektor im Reichsministerium für Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung, Theodor Vahlen (1869-1946), seinem Kollegen im Bayerischen Kultusministerium, Staatsrat Ernst Boepple (1887-1950), nahegelegt, Perron mittels des Gesetzes zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums vom 7. April 1933 in den Ruhestand zu versetzen. Die Unterlagen (darunter ein Brief Bieberbachs an Vahlen) scheinen dann indes für zwei Jahre verschwunden zu sein; da sich in der Zwischenzeit keine weitere politische Handhabe bot, wurde die Angelegenheit schließlich niedergeschlagen.3

Perron aber blieb unbequem, wie auch von der NSDAP erkannt wurde. So lautete die Auskunft der Ortsgruppe Bogenhausen 1941 anläßlich einer Anfrage zu Perron: "Wenngleich ein legales Verhalten zu erwarten ist, so kann doch andererseits gesagt werden, daß Perron nicht gerade ein ausgesprochener treuer Anhänger der Bewegung ist." Das Gaupersonalamt der NSDAP wurde noch deutlicher und betonte, daß "höchstenfalls legales Verhalten" zu erwarten sei.4

Während des Krieges hatte Perron häufig Auseinandersetzungen mit dem Dekan der Naturwissenschaftlichen Fakultät, Wilhelm Müller (1880-1968), einem Physiker, der nur teilweise erfolgreich mangelnde Qualität als theoretischer Physiker - er war Nachfolger Arnold Sommerfelds (1868-1951), dem gegenüber er besonders abfiel - durch eifrigen Einsatz für den Nationalsozialismus zu kaschieren versuchte.5

Solche Vorkommnisse brachten Perron, nach eigener und fremder Einschätzung, in erhebliche Gefahr, doch standen ihm auch Kollegen wie Heinrich Tietze (1880-1964)6 zur Seite; überhaupt war ja das Mathematische Seminar der Universität München im Nachkriegssinn politisch weitgehend "sauber".

Als Beispiel für Perrons Einstellung soll hier ein Schreiben veröffentlicht werden, das auf den 31. Mai 1939 datiert und an den Rektor der Ludwig-Maximilians-Universität München, den Mediziner Philipp Broemser (1886-1940), adressiert ist:7

Magnifizenz !

An der vom Herrn Reichsdozentenbundsführer Ministerialdirektor Professor Dr. Walter Schultze veranstalteten Feier der Dozentenbundsakademieen kann ich mich nicht beteiligen.

Grund:

Da ich weder Mitglied einer Dozentenbundsakademie noch überhaupt des Dozentenbundes bin, kann meine Beteiligung wohl nur in der Rolle eines wissenschaftlichen Ehrengastes gedacht sein. Nun bin ich aber Mitglied verschiedener deutscher wissenschaftlicher Akademieen, und gegenüber diesen Körperschaften und ihren Mitgliedern hat der Reichsdozentenbundsführer in der Festrede bei Gründung der Dozentenbundsakademie Kiel seiner Verachtung dadurch Ausdruck gegeben, dass er erklärte, die deutschen Akademieen hätten seit Leibniz wissenschaftlich nichts geleistet und seien heute nur als Gesellschaften von verkalkten wissenschaftlichen Veteranen anzusehen.

Zweierlei ist denkbar. Entweder der Reichsdozentenbundsführer hat mit dieser geringen Einschätzung recht oder er hat nicht recht. Im ersten Fall kann es dem Reichsdozentenbundsführer gewiss keine Freude machen, unter seinen Ehrengästen so minderwertige wissenschaftliche Persönlichkeiten zu sehen; ich möchte ihm diesen Anblick, was meine Person anbelangt, jedenfalls ersparen. Im zweiten Fall kann es aber mir nicht zugemutet werden, Ehrengast bei einem Mann zu sein, der die Akademieen und ihre Mitglieder zu Unrecht derart verunglimpft hat, und vermutlich wehrlos zuzuhören, wenn die Ehrengäste abermals in der gleichen Weise verächtlich gemacht werden.

Heil Hitler !

O. Perron

Das Schreiben scheint keine direkten Folgen gehabt zu haben; nur die Fertigung einer Abschrift für den Dozentenbundsführer ist vermerkt. Allerdings dürfte es nicht mehr verwundern, daß zwischen den relativ einflußreichen Vertretern des Nationalsozialistischen Deutschen Dozentenbundes an der Universität München ‒ allen voran der Astronom Bruno Thüring (1905-1989)8 ‒ und Perron kein besonders einvernehmliches Verhältnis herrschte.

Nach dem Krieg setzte sich Perron dafür ein, die "Ober-Nazis" der Naturwissenschaftlichen Fakultät zur Rechenschaft zu ziehen. Gerade auch seinem Einsatz ist es zu verdanken, daß Männer wie Thüring und Müller nach 1945 trotz relativ günstiger Spruchkammereinstufung (am Ende "Mitläufer") nicht mehr an die Universität zurückkehren konnten.9

In seinen Meldebogen vom 6. Mai 1946 hatte Perron geschrieben:

"War kompromissloser Gegner der Nazis. Im Kampf gegen die Verseuchung der Universität mit Nazis hatte ich manchmal Erfolg, aber meistens nur Ärger."10 Auch wenn der Erfolg selten blieb, seine couragierte Haltung verdient Erinnerung und Anerkennung.

Nachbemerkung der Redaktion:
Nach Fertigstellung des Beitrages von Herrn Dr. Litten wurde im Stadtarchiv Frankenthal ein leider undatiertes Schreiben an den Frankenthaler Heimatforscher Karl Huther gefunden, in dem Oskar Perron noch einmal seine Erfahrungen in der NS-Zeit zusammenfaßte. Da dieses Schreiben eine interessante Ergänzung zu den Ausführungen von Herrn Dr. Litten ist, soll es an dieser Stelle auszugsweise abgedruckt werden:
"In den Dreißiger Jahren besuchte ich regelmäßig die Schweiz, teils um mich auch auf den Viertausendern zu tummeln, zum großen Teil aber auch, um Emigrantenblätter zu lesen und mich mit Kollegen über Naziverbrechen zu unterhalten. Aber auch die Schweizer schauten sich, wenn sie offen reden wollten, ebenso ängstlich um wie das bei uns üblich war. Man fürchtete sich vor Nazispionen und es gab ja auch Entführungen.
Damit bin ich nun bei den Nazis angekommen. Als sie noch nicht am Ruder waren und mit den Kommunisten an Rauhbeinigkeit weitteiferten, da dachte ich, es ist eigentlich ganz gleich, wer von beiden die nächste Wahl gewinnt. Denn beide würden sich bemühen, der Welt vorzuspiegeln, daß sie die wahren Kulturträger seien und infolgedessen würde es wohl der Wissenschaft nicht schlecht gehen. Aber da täuschte ich mich. Die Nazis machten Ernst mit ihren Reformen und begannen schon am ersten Tag mit der Zerstörung der Universitäten. Im Sommer 1933 war ich zu einem Vortrag nach Göttingen eingeladen, der Hochburg der Mathematik. Die Professoren packten bereits ihre Koffer, und ein studentischer Pöbelhaufen beherrschte das Feld. Und dann kam die schmerzlichste Enttäuschung meines Lebens. Was ich für ganz unmöglich gehalten hatte, trat ein. Eine ganze Reihe hervorragender Wissenschaftler, nicht nur Konjunkturritter, die glaubten, sich jetzt ihrer Konkurrenz entledigen zu können, blies ins Hitlerhorn und scheute sich nicht, von der guten arischen und der schlechten "artfremden" jüdischen Physik und Mathematik zu reden und damit ihr deutsches Vaterland vor dem gesamten Ausland lächerlich zu machen. Mit diesen hatte ich viel zu kämpfen und meine Frau hatte oft Angst, daß ich mir den Mund verbrenne.
Aber ich machte es geschickt und kam nie mit der Gestapo in Konflikt, nur einmal mit einem jämmerlichen Blockwart, der mir die Frankfurter Zeitung verbieten wollte und den ich natürlich bös abfahren ließ. Die hiesigen Fachkollegen waren im Kampf gegen die Nazis natürlich auf meiner Seite. Es gab keine Gleichschalterei. Diesbezügliche Befehle wurden umgangen oder ignoriert. Nie zuvor wurden hier so viele jüdische Autoren in der Vorlesung empfohlen wie nach dem Verbot. Deshalb ist auch nach dem Endsieg unter den Amerikanern gerade die Mathematik hier sowohl an der Uni wie an der T.H. völlig intakt geblieben, während z.B. ein von uns aufs äußerste bekämpfter, aber vom Ministerium uns doch aufoktroyierter Vertreter der Theoret. Physik [Wilhelm Müller], der uns oft mit seinen guten Beziehungen zum Führerhauptquartier zu schrecken suchte, sofort verschwinden mußte.
Übrigens ist meine Haltung im Dritten Reich auch in meinem Mainzer Ehrendoctordiplom gewürdigt worden, was mich besonders gefreut hat."11


Anmerkungen

* Diese Miszelle entstand im Rahmen des DFG-Forschungsprojekts "Das Schicksal der Naturwissenschaftler an der Universität München 1945-1949". Ich danke den Mitarbeitern der in den Anmerkungen genannten Archive bzw. Behörden für ihre freundliche Unterstützung. Zurück

1 Karl Huther: Der Mathematiker Oskar Perron. Frankenthal einst und jetzt, 1966, Heft 1, S. 14-18. Zurück

2 Vgl. J. Heinhold: Oskar Perron. Jahresbericht der DMV, 90 (1988), Heft 4, S. 184-199; Hermann Schmidt: Oskar Perron. Bayerische Akademie der Wissenschaften, Jahrbuch 1976, S. 217-227. Jochen Dickbertel (Karlsruhe) bereitet eine Dissertation vor, in der auch Perrons Verhalten im Dritten Reich ausführlich behandelt wird. Zurück

3 Bayerisches Hauptstaatsarchiv München: MK 55040 (Personalakte Oskar Perron). Zum DMV-Hintergrund vgl. Norbert Schappacher unter Mitwirkung von Martin Kneser: Fachverband - Institut - Staat. In: Ein Jahrhundert Mathematik: 1890-1990. Hrsg. von Gerd Fischer et.al. Braunschweig 1990, S. 1-82, hier vor allem S. 57ff. Zu Bieberbach vgl. Herbert Mehrtens: Ludwig Bieberbach and "Deutsche Mathematik". In: Studies in the History of Mathematics. Hrsg. von Esther R. Phillips. (Studies in Mathematics, vol. 26.) O. O. 1987, S. 195-241. Zurück

4 Berlin Document Center: Research Wi Oskar Perron. Damit kein Mißverständnis entsteht: Perron war natürlich nie Parteimitglied. Zurück

5 Universitätsarchiv München: OC-N 14 Oskar Perron. Zu Müller vgl. Alan D. Beyerchen: Wissenschaftler unter Hitler. Frankfurt a. M. 1982, passim. Zurück

6 Vgl. Georg Aumann: Heinrich Tietze. Bayerische Akademie der Wissenschaften, Jahrbuch 1964, S. 197-201. Zurück

7 Universitätsarchiv München: E II-N Oskar Perron. Zurück

8 Vgl. Freddy Litten: Astronomie in Bayern 1914-1945. Stuttgart 1992, passim. Zurück

9 Vgl. das Schreiben Perrons an Walther Gerlach (1889-1979) vom 25. September 1946, in: Deutsches Museum - Archive, Sondersammlungen und Dokumentationen: Nachlaß Walther Gerlach. Zurück

10 Amtsgericht Landsberg am Lech: Meldebogen Oskar Perron. Zurück

11 Stadtarchiv Frankenthal (Pfalz): Best. VI/6, Frankenthaler Persönlichkeiten, Akte Oskar Perron. [Anm. 2003: Zwei in diesem Zusammenhang ebenfalls interessante Briefe Perrons an den früheren Assistenten Fritz Lettenmeyer finden sich unter http://www.bergruf.de/familiengeschichte/fritz_lettenmeyer_briefe_perron.html.] Zurück

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13.7.2023